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Wintermärchenmaschine Jens Titus Freitag besitzt einen alten unförmigen Mercedes Kastenwagen. Das Automobil hat ein kleines Loch in der rechten Seitenwand. Das Automobil mit dem Loch in der Wand ist eine Maschine, mit der Zeit eingefangen wird. Im Inneren des Kastens wird auf der linken Wand ein großes Photopapier be- festigt. Wenn der Verschluss von dem kleinen Loch entfernt ist, und Licht in den Kasten fällt, lässt Jens Titus Freitag das Auto einfach stehen. Die Maschine wird dann in Ruhe gelassen, sie arbeitet stundenlang. Ihre Arbeit heißt Ignoranz. Alles was sich schnell bewegt, wird getilgt aus der Zeit. Alles Langsame hinterlässt bloß Schatten. Nur was sich nicht rührt, das bleibt, es erstarrt und wird scharfkantig. Schatten werden Licht, rechts wird links. Der Kasten ist ein langsames, müdes Gerät, das Schwarz und Weiß vertauscht. Ist das belichtete Papier entwickelt, hat sich der helle Tag in eine nächtliche Winter- landschaft verwandelt. Die Camera obscura ist eine Wintermärchenmaschine. Selbst die zweifelhafteste Architektur verzaubert sie zu in Frost erstarrten Glas- häusern. Der Parkplatz vor einem Supermarkt liegt da in der Melancholie einer langen stillen Winternacht. Alles wirkt zerbrechlich wie Glas. Es sind Bilder, in denen man sucht. Die Details haben magische Wirkung. Die Schatten besitzen einen Tiefensog. Man sieht all die Dinge, alle Strukturen klar und hell, die sonst im Dunkeln verborgen sind. Das Alltägliche wird fremd. Freitags Arbeiten haben die Ruhe und Statik der ersten Photographien aus dem neunzehnten Jahrhundert, sie zeigen eine menschenleere Stille. Es ist der Blick aus dem Guckloch einer Zeitmaschine, wenn mit einer hoffnungslos veralteten Technik auf unsere Gegenwart geschaut wird. Selbst solch komplizierten Sachverhalte, wie die Krümmung des Raumes, werden sichtbar, wenn das Photopapier im Inneren des Kastens an die Decke gebogen wird. Seine Tretroller sind Bilder von Geisterspielzeug. Sie gleichen Röntgenaufnahmen. Da ist die Camera obscura nicht nur eine Nachahmung des menschlichen Auges, die Dunkelkammer simuliert Gedächtnis. Rüdiger Giebler Wintermärchenmaschine |